Kinderpost

Wenn ich in meiner Praxis ein Attest, eine Bescheinigung für Patienten mit meinem Holzstempel, von der KV, mit meinem sperrigen Titel, Psychologische Psychotherapeutin abstempel, also den kleinen Stempel, schniegsam in der Hand presse ich ihn in das Stempelkissen, das gibt etwas nach, eine lustvolle Handhabung.

Immer wieder die Frage, trotz Aufdruck auf der Vorderseite, richtig herum oder falsch, immer wieder stempel ich verkehrt herum.

Das Stempeln gibt mir immer das Gefühl etwas bedeutsames zu tun, etwas amtliches, fast hoheitliches zu tun, es ist eine narzisstische Aufwertung

Es ist ein Ritual, das Gegenüber in der Behandlung ist in der Regel in einer abhängigen, angewiesenen Position, das von mir auf gedruckten Briefpapier ist bedeutend, die Erschöpfung die in ein Erwerbsminderungsrenten Begehren mündet wird anerkannt.

Ernst genommen, die Patientin fühlt sich gesehen, gehört, der Stempel macht ihr Leiden amtlich , das Begehren nach finanzieller Kompensation des Unglücks, berechtigt.

Die empathische Nachvollziehung nach sozialstaatlicher Kompensation biografischer Unbeheimatung, stempelt keine sozialrechtliche Anerkennung des Rentenbegehrens ab.

Der Psychotherapeutisch gestempelten Empfehlung folgt nicht zwangsläufig die Übernahme der Einschätzung des Gerichts, oder im Vorlauf des,vom Gericht beauftragten Gutachters.

Ich erhalte für eine abgefragte Diagnose 35 Euro, ein bestellter Gutachter je nach  Zeitaufwand einige hundert Euro.

Ich als Stempelinhaberin bin für mein Gegenüber wichtig und bedeutend, das wird im Außen instutiell zwar abgefragt, und mit 35 Euro bezahlt.

Der Student den in der Abgabefrist der Hausarbeit die aus dem Druck der Kindheit kommende psychische Instabilität angesichts von Fristen und Leistungsnachweisen eingeholt hat ersucht mich um ein Gutachten für den Prüfungsausschuss

Die Eltern konnten ihm kein positives Bild der eigenen Stärke mitgeben, angesichts von Herausforderungen ersucht er mich um ein Attest zur Bescheinigung seiner depressiven Dekompensation, um ein bisschen mehr Zeit zu bekommen.

Ich spüre die große Entlastung eines verständnisvollen Gegenüber, er bekommt seinen Einbruch abgestempelt, die überzogenen Anforderungen der privatwirtschaftlichen Universität werden durch mich individuell pathologisiert und abgebildet in den Konsequenzen, vielleicht müsste er ohne so ein Attest ein Semester wiederholen und um 5000 Euro mehr an Studiengebühren investieren.

Als Kind hatte ich bei meinen Großeltern eine Kinderpost, laut der Chatliese in den Sechziger und Siebziger Jahren in Deutschland ein besonderes, sehr prägendes Spielzeug

“ eine Mischung aus Rollenspiel, Fantasie, Ordnungsliebe und Alltagsnachahmung“.

Ich habe das Stempeln mit Faszination und Hingabe stundenlang, versunken in meine Innenwelt ausgeübt.

Die Buchstaben im Stempel konnten in Schienen eingefügt werden. Gelegentlich verbrachte ich einen Tag auf der Dienststelle der Beamtenmutter, fasziniert von den Stempeln, die immer Bedeutsamkeit verhießen.

Immer wenn ich bei einer Behörde bin betrachte ich voll Ehrfrucht die Stempel, manchmal hängen mehrere in einem runden Gestell, zum Drehen. Ich verstehe nicht ganz meine Ehrfrucht vor Stempeln, bei Ärzten wartend vor dem Schreibtisch, wenn der Arzt noch woanders ist, blieben meine Augen bei der Inspektion des Schreibtischs bei den Stempeln hängen, für erwünschte, vielleicht nicht immer medizinisch erforderliche Arbeitsunfähigkeiten auf gelben Zetteln zu Angestelltenzeiten machten erst die Stempel die zusätzlichen freien Tage real, auf papierenden Rezepten für Medikamente prankten neben krakeligen Unterschriften Stempel.

Die verordnete Arznei bekam durch Stempel und Unterschrift ihre magische Bedeutung.

Es überkam mich oft, wartend auf den ärztlichen Magier der Impuls den Stempel einzustecken, eine Insignie der Wichtigkeit und Bedeutung.

Ich habe es nie getan. Jetzt habe ich selbst so ein Zepter, das Symbol meiner Bedeutung im Behandlungskontext, und ein Stempelkissen. Auf die gelbenvFormulare zur Beantragung der  Kostenübernahme setze ich meinen Stempel, ich fühle mich bedeutsam wenn ich den Stempel auf das Kissen, und auf das Formular setzen, 1000 Mal getan, empfinde ich den Moment noch immer bedeutsam wie unmittelbar nach Übernahme des Versorgungsauftrags, etwas magisches hat der Moment des Kontakts des Stempel auf dem Papier.

Für eine Patientin schreibe ich seit sieben Jahre Bescheinigungen für das Jobcenter, dass der Wohnungsmarkt für die „Working Poor“ in der Metrolpolregion keine preisgünstigen Wohnung vorhält.

Nachdem Auszug der Tochter ist dem sie bezuschussenden Jobcenter die Sozialwohnung zu groß und zu teuer, gleichwohl kleinere Wohnungen mit neuen Mietverträgen hochpreisiger sind.

Alle Jahre wieder droht ihr der Entzug des Zuhauses, triggert die kindlichen Abbrüche der Objektbeziehungen im Kontext der mütterlichen Migrationsgeschichte aus dem ehemaligen Jugoslawien.

Die Mutter ließ sie bei Großmutter und Tante zurück als sie als uheliche Mutter aus der engen katholischen Heimat Heimat nach Deutschland ausbrach. Angekommen, heiratete die Mutter nach Jahren harter Arbeit und holte die zurück gelassene Tochter in die neue Familie, mit sechs Jahren Heimatverlust, der nächste Beziehungsabbruch.

Mit meinem kleinen Holzstempel arbeite ich auch gegen individuelle Ungerechtigkeiten, attestiere ich für Behörden Mitarbeiter, dass was sie selbst wissen, das kein günstiger Wohnraum zur Verfügung steht. Bescheinigungen für Ausländerbehörden, dass schwer seelisch belastete Frauen die keine sechs Jahre zur Schule, in ihrer Migrationsheimat gehen konnten, besondere Schwierigkeiten beim B1 Sprachkurs haben, den sie für den dauerhaften Aufenthalt bei ihren Familien in Deutschland benötigen.

Aus meiner Krankheitsgeschichte kenne ich von einem Termin für ärztliches Gutachten für einen Sozialgerichtsprozeß von der anderen Seite, ein freundlicher Neurologe,

“ ich will ein Gutachten in ihrem Sinne schreiben“.

Als freiberufliche Beraterin für gesetzliche Krankenversicherung im Bereich Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen,

lud ich mir die Betroffenen Versicherten zum Gespräch, einige brachten verzweifelt Aktenordner voller ärztlicher Befunde.

Je größer der Abstand in der formalen Bildung, desto größer die Angst nicht Ernst genommen zu werden, soviel Angst aus herablassenden Erfahrungen, ich brachte Empathie und Entlastung, und war nicht wirklich geeignet im Interesse meiner Kunden, der Krankengeld sparen wollenden Abteilungsleiter zu arbeiten, aber im Sinne der eigentlichen Aufgaben der Krankenversicherungen, der Versorgung der Erkrankten war ich richtig mit meinem Titel.

Die Betroffenen selbst werden nicht Ernst genommen, in der Formulierung Ihrer Bedürfnisse, maximal drei Tage dürfen Sie ohne ärztliches Attest vom Arbeitsplatz wegbleiben, in skandinavischen Ländern sind es vereinzelt vierzehn Tage, eine Kultur des Vertrauens, nicht Mißtrauen wie hier zulande.

Wir sind die Kultur des Mißtrauen, der Kontrolle, der Gutachter, der Atteste, des Stempeln.

Wären die gesellschaftlichen Machtverhältnisse anders, gäbe es weniger Atteste, mehr Arbeitskampf für bessere Arbeitsbedingungen mehr sozialer Wohnungsbau, mehr gesellschaftliches Engagement für Wohnungsbau und niedrige Mieten, bessere Studienbedingungen, oder den Kampf dafür.

Während meines Studiums in den Achtzigern gab es zwei Semester Streik gegen die Verschärfung der Studienbedingungen,  in der Zeit selbstorganisierte Alternativseminare, zum einem Politisches, wie mein Faschismustheorieseminar, andere waren eher an Selbsterfahrung interessiert, wenn ich jetzt meinen studentischen Helfern davon berichte, erlebe ich das wie, „Oma erzählt vom Krieg“.

Mein Vater schwärmte von den Siebzigern, in denen kein Lohn Schluss unter zehn Prozent blieb, die IG Metall stark war.

Heute leiden die Menschen individuell, gehen zum Arzt oder zur Therapie.

Sie sind Objekte der Begutachtung, ich versuche mit meinem Wissen und meinen Insignieen der Zugehörigkeit zu den Heil- und helfenden Berufen individuelles Leid auch außerhalb meiner eigentlichen Aufgaben der Psychotherapie zu helfen, und habe ein großes Unbehagen Atteste zur Offensichtlichen, der Wohnungsnot zu erstellen, so muss der zuständige Behörden Mitarbeiter keine eigene Verantwortung übernehmen, er hat eine gestempelte Bescheinigung.

So stempelt die kleine Kathrin weiter mit ihrer Kinderpost.

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Herzlich Willkommen

Danke, dass du vorbeischaust! Ich bin Kathrin Köpp, psychologische Psychotherapeutin aus Hamburg. Neben meiner Arbeit in der Praxis biete ich eine Online-Beratung für Krisensituationen und diagnostische Einschätzungen für Selbstzahler ohne Wartezeit an. Auf diesem Blog möchte ich mit dir Geschichten aus meinem beruflichen und privaten Alltag als von MS-Betroffene teilen. Meine wichtigste Mitarbeiterin ist Miss Molly, nach zehn Jahren als Hauskatze auch als Queen Mom bekannt. Besonders bei ängstlichen und depressiven Patientinnen ist sie ein wertvoller Teil meines Teams.

Besuch gerne meine Homepage: Tiefenpsychologisch fundiert – Psychodynamisch fokussiert – Home

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